Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Mitglieder der Schulgemeinde,

 

wir feiern heute das hundertjährige Bestehen des Comenius-Gymnasiums in Datteln - im Juni 2014.

In mehrfacher Hinsicht ist dies der Nicht-Geburtstag unserer Schule. Wieso Nicht-Geburtstag? Lassen Sie mich mit der Chronologie beginnen:

  • Im April 1913 wurde der Schulbetrieb der Rektoratsschule Datteln als Schule für Jungen aufgenommen.
  • 1934 wurde sie als Realprogymnasium anerkannt und damit in eine öffentliche höhere Schule umgewandelt.
  • 1942 wurde eine „Oberschule für Mädchen“ gegründet, die zwei Jahre später eine Oberstufe
     bekam – Datteln hatte damit für zwei Jahrzehnte zwei Gymnasien.
  • Vor jetzt 46 Jahren wurden das Mädchen- und Jungengymnasium zusammengelegt.
  • Erst vor 16 Jahren gab sich das vormals Städtische Gymnasium Datteln den heutigen Namen Comenius-Gymnasium Datteln.

 

2014 feiern wir den 100. Geburtstag der Schulgründung.
Selbst mathematisch geringer Begabte fragen sich nach einer kurzen Denkpause irritiert:

Wie rechnen die denn? Ziehen sie – ähnlich wie beim Dreißigjährigen Krieg einfach das Jahr ab, in dem der Betrieb still stand? Fast ein Jahr lang, nämlich vom 15.03.1945 bis zum 03.01.1946, war der Schulbetrieb nach dem 2. Weltkrieg unterbrochen.

 

Nein, das ist nicht der Grund. Vielmehr machte 2013 der Doppeljahrgang G9 und G8 Abitur und mein Vorgänger, wurde in den Ruhestand verabschiedet, und da ging einfach nicht mehr.

Rechnen wir also einfach in Schuljahren und dann kommt es irgendwie hin!

 

Außerdem weist Humpty Dumpty der Erfinder des Nicht-Geburtstags in dem Kinderbuch von Lewis Carroll Alice hinter den Spiegeln schlüssig nach, wie viel vorteilhafter das Feiern von Nicht-Geburtstagen ist, immerhin bekomme man viel mehr Geschenke, als feierte man nur Geburtstag – ein Kalkül, das es noch empirisch zu beweisen gilt.


Begleiten Sie mich auf eine kurze Reise zurück in das Frühjahr des Jahres 1913.
Im deutschsprachigen Raum zeichnen sich bereits früh im Jahrhundert einige Entwicklungen ab, die das gesamte 20. Jahrhundert, das Zentennium der Moderne, bestimmen sollten:

In Essen wurde Aldi gegründet.

- Die Ozon-Schicht wurde entdeckt.

- Die Atomforschung macht mit Niels Bohr Quantensprünge.

- O’Gorman entwickelt die Farbfotografie weiter, arbeitet aber auch energisch an
  der Entwicklung neuer Kampfflugzeuge, die alle bisherigen an Schlagkraft
  übertreffen sollten.

- Berlin als Inbegriff der deutschen Großstadt vereint Gegensätze in sich, wie sie durch das ungeheure Auseinanderdriften von Arm und Reich; von Stadt und Land, von Kultur und Kulturferne nur unvollständig beschrieben sind.

- Sternheim, Wedekind, Schnitzler, Kafka und Lasker-Schüler, Thomas und Heinrich Mann, um nur einige große Namen zu nennen, prägen das intellektuelle Leben ebenso wie Sigmund Freud, der dem 20. Jahrhundert das Tor zur terra incognita der Psyche aufstoßen wird.

- Die Kunst, die Architektur begründen mit dem Expressionismus, dem Kubismus, dem Bauhausstil ihrerseits den Aufbruch in das 20. Jahrhundert.

- Florian Illies zeichnet aber in seinem Bestseller für den 20. April des Jahres 1913 auch das Bild des 24. Geburtstages von Adolf Hitler im Männerwohnheim des Wiener Arbeiterbezirks Brigittenau nach, wo der damals noch Aquarelle von Wiener Sehenswürdigkeiten malte.

 

Bilanziert man allein diese kurze Liste, so lässt sich Folgendes festhalten:
Seine Struktur verändert hat nicht nur das einstige Lebensmittelgeschäft Aldi – sondern zu unser aller Leidwesen auch die Ozonschicht.

Die Kampfflugzeug- und die Atomforschung haben weitere Fortschritte gemacht, und mit ihrer Hilfe wurden und werden weltweit große Schäden angerichtet.

Hitlers Aquarelle haben nicht den Sprung in die Kunstgeschichte geschafft. Leider aber ist dem Kunstmaler der verheerende Sprung in die Weltgeschichte gelungen.

Schulen im gesamten Deutschen Reich haben sich an dieser unseligen Unsterblichmachung beteiligt, da machten auch das Realprogymnasium Datteln und später die Oberschulen keine Ausnahme.
In der Pausenhalle unserer Schule haben wir „Unseren Gefallenen“ ein Denkmal gesetzt, ein künstlerisch sehr beeindruckendes noch dazu. Ich denke, es ist aber längst an der Zeit, auch bei uns explizit aller anderen Opfer des nationalsozialistischen Unrechtsregimes zu gedenken. Das sei hier anlässlich des Rückblicks auf die vergangenen hundert Jahre wenigstens erwähnt, sollte aber auch auf unsere Agenda für das nächste Jahr gesetzt werden!

 

Zwei ehemalige Schüler unseres Gymnasiums, Marcus Meer und Jan Moerchen, haben anlässlich unseres Jubiläums eine beeindruckende Chronik unter dem Titel Schule zwischen Kaiser, Hakenkreuz und Demokratie. 100 Jahre Gymnasium in Datteln verfasst und ich lade Sie zu dem Festvortrag der beiden jungen Autoren sehr herzlich ein, den Sie heute Nachmittag hören können.
Marcus Meer und Jan Moerchen stellen in ihrer Schrift fest, wie sehr die Schule „durch die Wechselfälle der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts beeinflusst worden ist. Sie ist Spiegelbild der Gesellschaft und hat die Auswirkungen der deutschen Geschichte stets zu spüren bekommen.“
 

Die beiden Ex-Schüler, die inzwischen Geschichte studieren, weisen anschaulich nach, wie deutlich sich diese einseitige Dependenz im jeweiligen Bildungsauftrag auch der Dattelner Bildungsanstalten wiederfinden lässt.

 

So umfasste der kaiserzeitliche Bildungsauftrag die Liebe zu Gott und Vaterland und die zur Monarchie, die „unerlässliche Vorbedingung für den Schutz und das Gedeihen des einzelnen“[1] sei.
In der Zeit der Weimarer Republik wurde aus Goethes Frage nach dem Land, wo die Zitronen blühn im Jahr 1928 die bange Frage Erich Kästners „Kennst du das Land, wo die Kanonen blühn?“ Der Bildungsauftrag, den die Weimarer Republik ihren Schulen ins Stammbuch schrieb, orientierte sich ebenfalls am nationalistischen Denken[2], folglich drohte Kästner in seinem Gedicht in der letzten Verszeile: „Du kennst es nicht? Du wirst es kennenlernen!“ Und er sollte Recht behalten.
Erlauben Sie mir an dieser Stelle, den Erziehungsauftrag der Nationalsozialisten nicht zu referieren, er ist hinlänglich bekannt und analysiert worden – seine Umsetzung ist leider – um mit einem modernen Begriff aus der Lernzielpädagogik zu sprechen – objektivierbar.

Auch alle weiteren Bildungsbegriffe lasse ich jetzt links liegen, hervorheben möchte ich aber für alle Vorstellungen von Schule nach 1945 folgende Gemeinsamkeit: Sie versteht sich als Bildungsinstitution in einem demokratischen Staat, dessen Strukturen auch immer wieder Veränderungsprozessen unterworfen sind, dessen Ziele sich jedoch auf die Gleichberechtigung aller richten.

Wie sieht es damit aus?
Die große Kluft, die im Jahr 1913 in der Gesellschaft bestand, ist auch im Jahre 2014 erneut ein Kennzeichen unserer Gesellschaft:

Die Bundesrepublik Deutschland produziert simultan mehr Reiche und mehr Arme,[3]. mehr Gebildete und mehr Analphabeten, mehr durch Bildung Begünstigte und mehr Bildungsbenachteiligte - insgesamt also große gesellschaftliche Konfliktpotentiale.
Und das natürlich auch in Datteln mit seiner Arbeitslosigkeit von 12%.
Die schulischen Aufgaben haben Dimensionen angenommen, die allen am Schulleben Beteiligten viel abverlangen: Durch neue Familienstrukturen, durch ein verändertes Erziehungsverständnis der Eltern, durch den Zuzug von Migranten, durch neue Medien und Kommunikationsformen, und schließlich auch durch die verlängerte Adoleszenz unserer Jugendlichen bei gleichzeitig größeren Erwachsenenrechten und -pflichten.

Wie ist dem zu begegnen?

Wenn an die Institution Schule nicht nur die Erwartung der Wissensvermittlung, sondern ein erweiterter Bildungsauftrag, auch ein erzieherischer Auftrag gerichtet wird, dann ist dieser zunächst kritisch zu prüfen. Zu prüfen ist er auf Herz und Nieren und zwar von allen, damit der in der Geschichte Westeuropas einmalig lange Friedenszustand nach Möglichkeit ad infinitum erhalten bleibt. Das bedeutet auch, dass die oben beschriebene einseitige Abhängigkeit der Schule vom autoritären Staat sich in demokratischen Gesellschaften in Interdependenz auflösen muss.

Ich komme zurück zum Gründungsjahr unserer Schule: Walter Gropius hat 1913 sein Motto „form follows function“ für die moderne Architektur formuliert.
Unser Altbau, ein Gebäude im Bauhausstil, war im Jahre seiner Fertigstellung 1928 zweifellos modern - war es aber auch das Schulleben, das dieser Form als Funktion zugrunde lag? Wir dürfen das bezweifeln, wenn wir den Literaten, deren Werke 1933 der Bücherverbrennung zum Opfer fielen und den großen literarischen Schulgeschichten der Moderne Glauben schenken.
 

Eine moderne Schule unserer Zeit muss mit ihren Formen auch die Funktionen eines ganzheitlichen Bildungsbegriffes berücksichtigen. Das Comenius-Gymnasium hat sich mit den Idealen seines Namensgebers der Förderung eines solchen ganzheitlichen Bildungsbegriffs verschrieben. Trotz eingeschränkter räumlicher Möglichkeiten wird hier seit vielen Jahren unter Beweis gestellt, dass die Herausbildung aller sieben Formen von Intelligenz, inklusive der musischen und darstellenden, sowie für die mediale Kompetenzvermittlung gelingen kann.

Schule heutzutage muss sozialen, demokratischen und handlungsorientierten Zielen Raum geben. Als neue Herausforderung kommt das gemeinsame Lernen – Stichwort „Inklusion“ hinzu.

„Form follows function“ bedeutet heute auch, kindlichen Bedürfnissen im doppelten Sinne Raum zu geben, Bedürfnissen wie Spielen, Klettern, Toben, Ausprobieren, oder rein menschlichen wie Essen, Trinken, Ausruhen, aufs Klo gehen.
Unsere Schülerinnen und Schüler sind zum Teil bis 17.30 Uhr in der Schule. Wir müssen durch die erhöhte Wochenstundenzahl Unterricht an vier Nachmittagen pro Woche anbieten.

Wohin in den Pausen, wo ist man Mensch, wo kann man‘s sein? Wenn wir, wie für Gymnasien immer wieder kritisiert, der fehlenden Lernbegleitung durch Lehrer und Lehrerinnen abhelfen wollen, müssen Gelegenheiten da sein, muss Raum dafür da sein.

Demokratieerziehung beispielsweise, schult in ihren Ausdrucksformen die verbale Intelligenz. Wo sind die Foren, wo die Austauschmöglichkeiten? Gerade wenn wir dem Paradoxon der fortschreitenden Vereinzelung im virtuellen sozialen Netz etwas entgegensetzen wollen: Menschen aus Fleisch und Blut, die sich mit anderen Menschen aus Fleisch und Blut treffen, austauschen, streiten können, dann brauchen wir geeignete Räume. Es kommt nicht von ungefähr, dass für viele abstrakte soziale Räume Raummetaphern herhalten müssen: Forum, Aula, Werkstatt, Laboratorium, Zentrum, Chatroom… Semantisch verbirgt sich hinter all diesen Ortsbezeichnungen die Vorstellung vom Austausch mit anderen, die auch den grundlegenden Vorteil der Institution Schule und Hochschule beinhaltet: Nur hier kann man institutionalisiert auf andere Sprecher, Spieler, Denker, Handwerker, Künstler und Lebenskünstler aus Fleisch und Blut treffen.
Roland Reichenbach, ein moderner Nachfolger von Johan Amos Comenius, fordert in seinem „Plädoyer für eine gewöhnliche Institution“ 2013 ein klares Bekenntnis zur Schule als Lernort mit Stärken und Schwächen, an dem jungen Menschen solides Fachwissen, vor allem aber auch das Denken lernen. Das sogenannte „Verfügungswissen“, das in unseren Zeiten der Kompetenzorientierung vorrangig gelehrt werde, benötige dringend seine Wieder-Ergänzung durch das Reflexionswissen und das Orientierungswissen, welches ethisch-kulturelle Inhalte umfasse.

In den Entwicklungsimpulsen hin zu einem neuen Bildungsbegriff findet sich vieles, mit dem wir die kommenden 100 Jahre gut bestehen können: „Zivilität“ und der etwas verstaubt daherkommende „Anstand“ als Lernziele beispielsweise werden differenziert betrachtet, als Voraussetzung für eine „gemeinsame Welt, eine vorrechtliche Ordnung, ohne die Recht und Institution undenkbar wären.“[4]
Das Lehrer-Schüler-Verhältnis ist nicht symmetrisch, aber es kann partizipatorisch sein. Kinder und Jugendliche haben andere Rollen als Erwachsene. Schüler und Schülerinnen andere als Lehrer und Lehrerinnen. Das ist gut so, denn in der Differenz liegt hier das diskursive Potential dieser Beziehung. Das wiederum kann die Voraussetzung für eigenes Denken bieten.

Das Comenius-Gymnasium hat sehr gutes Lehrpersonal, engagierte Eltern und eine leistungsstarke Schülerschaft.

Das ist unser Vorteil, wir werden ihn nutzen!

 

 

Datteln, den 14.06.2014                          Regina Brautmeier, Schulleiterin

 

[1] Meer/Moerchen, S. 12

[2] Vgl. ebd. S. 25

[3] Der Spiegel, Nr. 19 vom 05.05.2014

[4] Roland Reichenbach (2013). Für die Schule lernen wir. Plädoyer für eine gewöhnliche Institution. Seelze. S. 25

Kontakte:

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Südring 150
45711 Datteln

Tel.: 02363 3747-0
Fax: 02363 3747-22

 

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